Das Altschuldenentlastungsgesetz NRW: Ein Meilenstein für die kommunale Entschuldung

Endlich Entlastung für überschuldete Kommunen in Nordrhein-Westfalen

Nach jahrzehntelanger Diskussion über die dramatische Verschuldung der Kommunen in Nordrhein-Westfalen steht nun ein wegweisender Lösungsansatz vor der parlamentarischen Beschlussfassung: Das Gesetz zur anteiligen Entschuldung von Kommunen im Land Nordrhein-Westfalen (Altschuldenentlastungsgesetz Nordrhein-Westfalen – ASEG NRW). Am 13. Mai 2025 hat das Landeskabinett den Gesetzentwurf verabschiedet, der nun dem Landtag zur Beratung und Beschlussfassung vorliegt. Die finale Verabschiedung ist für Juli 2025 geplant.

Die Dimension des Problems: 20,9 Milliarden Euro Liquiditätskredite

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Zum 31. Dezember 2023 beliefen sich die Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung in den kommunalen Kernhaushalten von Nordrhein-Westfalen auf rund 20,9 Milliarden Euro. Diese setzen sich aus Liquiditätskrediten (19,2 Mrd. Euro) und begebenen Wertpapieren zur Liquiditätssicherung (1,6 Mrd. Euro) zusammen.

Diese enormen Schuldenberge sind vor allem zwischen den Jahren 2000 und 2016 entstanden, als sich die kommunalen Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung von nahezu null auf etwa 28 Milliarden Euro entwickelten. Obwohl bereits seit 2017 Tilgungen von rund 25 Prozent erfolgten, stellt die verbleibende Schuldenlast für viele Kommunen eine untragbare Belastung dar, die aus eigener Kraft nicht mehr zu bewältigen ist.

Was macht Liquiditätskredite so problematisch?

Ursprünglich sollten Liquiditätskredite nach § 89 Absatz 2 Satz 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen lediglich die jederzeitige Zahlungsfähigkeit der Gemeinden sicherstellen – als kurzfristige Überbrückung von Liquiditätsengpässen. In der Praxis entwickelten sie sich jedoch insbesondere in den Jahren des massiven Aufwuchses zu einem Instrument zur dauerhaften Finanzierung laufender Ausgaben. Dies führte zu einer strukturellen Schieflage in den kommunalen Haushalten, die bis heute nachwirkt.

Die Folgen sind gravierend:

  • Einschränkung der kommunalen Handlungs- und Leistungsfähigkeit
  • Erschwerte eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung
  • Gefährdung der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger
  • Strukturelle Haushaltsdefizite ohne Aussicht auf Konsolidierung

Die Lösung: Das Altschuldenentlastungsgesetz im Detail

Grundprinzipien des Gesetzes

Das ASEG NRW folgt klaren Grundsätzen, die in den Projektunterlagen der Landesregierung dokumentiert sind:

1. Freiwilligkeit: Die Teilnahme am Landesprogramm erfolgt auf Antrag der antragsberechtigten Kommunen

2. Subsidiarität: Das Land greift nur ein, soweit Kommunen ihre Verbindlichkeiten nicht aus eigener Finanzkraft zurückführen können

3. Gleichbehandlung: Gleiche, für alle Kommunen geltende Maßstäbe bei der Entschuldung

4. Schuldübernahme: Die anteilige Entschuldung erfolgt im Wege der direkten Schuldübernahme durch das Land

Was sind "übermäßige" Verbindlichkeiten?

Als übermäßig im Sinne des Gesetzes gelten Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung, wenn sie eine Pro-Kopf-Verschuldung von mehr als 100 Euro je Einwohnerin und Einwohner nach Abzug liquider Mittel übersteigen. Diese Definition orientiert sich an den bundesweiten Eckpunkten und stellt sicher, dass nur wirklich problematische Verschuldung in das Programm einbezogen wird.

Nicht umfasst sind:

  • Verbindlichkeiten, die tatsächlich zur Finanzierung von Investitionen verwendet wurden
  • Verbindlichkeiten, die zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit nicht erforderlich waren
  • Liquide Mittel aus Stiftungsvermögen oder zweckgebundenen Mitteln

Wer kann teilnehmen?

Antragsberechtigt sind grundsätzlich alle Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen, die übermäßige Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung aufweisen. Ausgeschlossen sind jedoch finanzkräftige Kommunen, deren Steuerkraft- bzw. Umlagekraftmesszahl in den Jahren 2016 bis 2025 durchgehend um mehr als 200 Prozent über der Ausgangsmesszahl lag – ein Kriterium, das nur sehr wenige, außerordentlich vermögende Kommunen betrifft.

Das Antragsverfahren: Professionell und transparent

Ablauf und Fristen

Das Antragsverfahren läuft über die landeseigene Förderbank NRW.BANK ab und erfolgt ausschließlich elektronisch. Antragstellende Kommunen haben nach Inkrafttreten des Gesetzes mindestens vier Monate Zeit, ihre Anträge zu stellen.

Erforderliche Unterlagen

Dem Antrag sind nach den Bestimmungen des Gesetzes beizufügen:

  1. Ratsbeschluss über die Ausübung der Antragsberechtigung
  2. Festgestellter Jahresabschluss zum 31. Dezember 2023
  3. Wirtschaftsprüferbericht über die Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung

Qualitätssicherung durch externe Prüfung

Ein wichtiger Baustein des Verfahrens ist die verpflichtende Beauftragung einer Wirtschaftsprüferin, eines Wirtschaftsprüfers oder einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Diese überprüfen auf Kosten der antragstellenden Kommune:

  • Die Richtigkeit von Ansatz und Ausweis der Verbindlichkeiten in der Bilanz
  • Die Vollständigkeit und Richtigkeit der abzugsfähigen liquiden Mittel
  • Die Saldenbestätigungen der Kreditinstitute

Die drei Säulen der Entlastung

Das Gesetz sieht ein ausgeklügeltes System aus drei Entlastungskriterien vor, die kumulativ erfüllt sein müssen:

1. Gesamtvolumen: 50-Prozent-Regel

Insgesamt gehen bis zu 50 Prozent des gemeldeten und geprüften Gesamtvolumens der übermäßigen kommunalen Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung in die Schuld des Landes Nordrhein-Westfalen über.

2. Mindestentschuldung für alle

Alle teilnehmenden Kommunen erhalten im Rahmen einer Mindestentschuldung einen einheitlichen Anteilswert ihrer übermäßigen Verbindlichkeiten abgenommen. Die genaue Quote wird nach Eingang aller Anträge anhand des Gesamtschuldenvolumens errechnet.

3. Spitzenentschuldung: Obergrenze 1.500 Euro pro Kopf

Besonders hoch verschuldete Kommunen profitieren von einer Spitzenentschuldungsregelung: Nach der Teilnahme hat keine Kommune mehr als 1.500 Euro pro Einwohnerin und Einwohner an übermäßigen Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung. Verbindlichkeiten oberhalb dieser Grenze werden vollständig vom Land übernommen.

Innovative Berechnungsmethode

Die Ermittlung der individuellen Entlastungsbeträge erfolgt über ein iteratives Rechenverfahren, das die Einwohner- und Verschuldungszahlen aller teilnehmenden Kommunen einbezieht. Dadurch wird sichergestellt, dass alle drei Kriterien gleichzeitig erfüllt werden und keine Änderung der interkommunalen Pro-Kopf-Verschuldungsreihenfolge eintritt.

Bewilligungsverfahren: Rechtssicher und verlässlich

Nach Ablauf der Antragsfrist erfolgt das Bewilligungsverfahren in klar strukturierten Schritten:

  1. Datenübermittlung an die zuständigen Ministerien durch die NRW.BANK
  2. Berechnung der individuellen Entlastungsbeträge durch das Kommunalministerium
  3. Veröffentlichung der Übernahmebeträge
  4. Bewilligungsbescheid durch die örtlich zuständige Bezirksregierung

Der Bewilligungsbescheid stellt einen rechtskräftigen Verwaltungsakt dar und gibt den Kommunen Rechtssicherheit über die Höhe ihrer Entlastung.

Finanzierung: 250 Millionen Euro jährlich über 30 Jahre

Das Land Nordrhein-Westfalen stellt für die anteilige Entschuldung einen jährlichen Betrag von 250 Millionen Euro über 30 Jahre bereit – insgesamt also 7,5 Milliarden Euro. Damit geht das Land eine Verpflichtung für Jahrzehnte ein und ist nach den vorliegenden Dokumenten die erste Landesregierung in der Geschichte Nordrhein-Westfalens, die sich substantiiert mit eigenen Mitteln an der Kommunalentschuldung beteiligt.

Rolle des Bundes

Trotz dieser enormen Landesanstrengung bleibt der Bund weiter aufgefordert, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Die Projektdokumente machen deutlich: Da die kommunale Ausgabenseite insbesondere durch bundesgesetzliche Regelungen determiniert ist und die Kommunen diese im Zuge der Vollzugskonnexität tragen müssen, ist eine substanzielle Bundesbeteiligung nicht nur wünschenswert, sondern notwendig.

Zeitplan und Umsetzung

Aktueller Stand (Juni 2025):

  • Gesetzentwurf wurde am 13. Mai 2025 vom Landeskabinett verabschiedet
  • Erste Lesung im Landtag erfolgt
  • Anhörung von Sachverständigen fand am 23. Juni 2025 statt

Geplante nächste Schritte:

  • Beschlussfassung im Landtag voraussichtlich Juli 2025
  • Inkrafttreten des Gesetzes im Sommer 2025
  • Beginn des Antragsverfahrens ab Herbst 2025
  • Schuldübernahme bis spätestens 31. Dezember 2026

Erwartete Auswirkungen

Für die Kommunen

Das Gesetz wird die finanzielle Handlungs- und Leistungsfähigkeit der besonders betroffenen Kommunen erheblich stärken. Durch die Entlastung können sie:

  • Wieder eigenverantwortlich agieren
  • Investitionen in die kommunale Infrastruktur tätigen
  • Die Daseinsvorsorge für ihre Bürgerinnen und Bürger sicherstellen
  • Einen materiellen Haushaltsausgleich erreichen

Für die Bürgerinnen und Bürger

Die Entschuldung kommt letztendlich den Menschen vor Ort zugute. Weniger Schuldendienst bedeutet mehr Spielraum für kommunale Leistungen – von der Kinderbetreuung über den Straßenbau bis hin zur kulturellen Förderung.

Nachhaltige Entwicklung

Die Projektunterlagen zeigen: Die anteilige Entschuldung erzeugt "in besonderer Weise einen Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung der Kommunen in Nordrhein-Westfalen". Durch die Stärkung der kommunalen Handlungsfähigkeit wird eine wichtige Grundlage für zukunftsfähige Kommunalentwicklung gelegt.

Kritische Einordnung und Ausblick

Erfolg mit Grenzen

Das ASEG NRW ist zweifellos ein wichtiger Schritt zur Lösung der kommunalen Altschuldenproblematik. Es zeigt, dass das Land Nordrhein-Westfalen bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und erhebliche eigene Mittel einzusetzen. Allerdings löst es nur einen Teil des Problems:

  • Es handelt sich um eine anteilige, nicht vollständige Entschuldung
  • Das Problem aktueller Haushaltsdefizite wird nicht angegangen
  • Ohne Bundesbeteiligung bleiben strukturelle Finanzierungsprobleme bestehen

Wegweisend für andere Länder

Das nordrhein-westfälische Modell könnte Vorbildcharakter für andere Bundesländer entwickeln. Die klaren Kriterien, das professionelle Verfahren und die langfristige Finanzierungszusage setzen Standards, die bundesweit Beachtung finden dürften.

Mahnung an den Bund

Gleichzeitig ist das Gesetz auch eine Mahnung an den Bund, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Die Projektdokumente machen deutlich: "Der Bund bleibt weiter aufgefordert, seiner Verantwortung im Zuge bundesseitig ausgelöster und kommunal zu finanzierender Aufgaben gerecht zu werden und seine Zusage einer substanziellen Beteiligung an einer Kommunalentschuldung einzuhalten."

Fazit: Ein Meilenstein mit Signalwirkung

Das Altschuldenentlastungsgesetz Nordrhein-Westfalen ist mehr als nur ein landespolitisches Instrument – es ist ein Meilenstein in der deutschen Kommunalfinanzierung. Erstmals übernimmt ein Bundesland in diesem Umfang Verantwortung für die Altschulden seiner Kommunen und stellt dafür erhebliche eigene Mittel bereit.

Die wichtigsten Eckdaten im Überblick:

  • 20,9 Milliarden Euro Gesamtverschuldung zur Liquiditätssicherung (Stand 31.12.2023)
  • 250 Millionen Euro jährlich über 30 Jahre vom Land
  • Bis zu 50 Prozent anteilige Entschuldung
  • 1.500 Euro pro Kopf als Obergrenze nach der Entschuldung
  • Freiwillige Teilnahme für alle antragsberechtigten Kommunen

Mit diesem Gesetz beweist Nordrhein-Westfalen, dass praktikable Lösungen für die kommunale Altschuldenproblematik möglich sind. Es bleibt zu hoffen, dass andere Bundesländer diesem Beispiel folgen und der Bund seiner Verantwortung in angemessener Weise nachkommt. Nur so kann das Problem der kommunalen Verschuldung nachhaltig gelöst und die Handlungsfähigkeit der Kommunen als wichtigste Säule der deutschen Verwaltung gestärkt werden.

Wir erstellen auch für Ihre Kommune den Wirtschaftsprüferbericht über die Verbindlichkeiten zur Liquiditätssicherung. Gerne können wir in einem persönlichen Gespräch die weiteren Schritte unverbindlich besprechen. 

Schreiben Sie einfach eine E-Mail an info@th-kommunalberatung.de

In der Zwischenzeit können Sie auch gerne in unserem Online Rechner die Antragsberechtigung Ihrer Kommune selber prüfen. Diesen finden Sie hier: Online-Rechner Altschuldenentlastung


Quellen:

  • Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 18/13835
  • Vorlage 183609.pdf der Landesregierung NRW
  • Ausschussprotokoll APr 18/915 vom 27.05.2025
  • Pressemitteilung der Landesregierung vom 14.05.2025
  • Plenarprotokoll 18/95 vom 22.05.2025
  • Stellungnahme des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) vom 08.05.2025

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